Studie: Wie abhängig ist die europäische Stromversorgung von Erdgas?
Die Bundesregierung hat die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Ursächlich hierfür sind Kürzungen der Erdgaslieferungen aus Russland. Von dort wird rund ein Drittel des in der Europäischen Union (EU) verbrauchten Erdgases importiert. In etwa dieser Menge wird Erdgas in der EU auch zur Produktion von elektrischer Energie in Gaskraftwerken verbraucht. Infolge des Ukraine-Krieges stellt sich zunehmend die Frage, inwiefern die europäische Stromversorgung kurz- bis mittelfristig auf den Verbrauch von Erdgas verzichten kann. Dieser Fragestellung ist ein interdisziplinäres Team von Forschenden der Lehrstühle für Energiesystemökonomik und für Übertragungsnetze und Energiewirtschaft der RWTH Aachen in einer aktuellen Studie nachgegangen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen mit ihren Simulationen zu dem Ergebnis, dass der Stromsektor den eigenen durchschnittlichen Erdgasverbrauch um 30 Prozent reduzieren kann, ohne dass größere Stromabschaltungen und volkswirtschaftlichen Kosten drohen. So würde eine 30-prozentige Verringerung der üblichen Erdgasverstromung mit einem Stromverzicht von 1,6 TWh (ca. 0,1 Prozent des EU-Stromverbrauchs) und volkswirtschaftlichen Kosten infolge ungedeckter Stromnachfrage von 1,4 Milliarden Euro (ca. 0,01 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts) pro Jahr einhergehen. „Dies setzt jedoch voraus, dass der Stromverbrauch im Knappheitsfall volkswirtschaftlich intelligent rationiert wird“, schränkt Professor Aaron Praktiknjo (JARA-ENERGY), Lehrstuhl für Energiesystemökonomik, jedoch ein.
Ohne weitergehende Maßnahmen scheint bei einer 30-Prozent-Senkung des üblichen Erdgasverbrauchs im Stromsektor allerdings ein Kipppunkt erreicht zu sein. Soll der Stromsektor mittelfristig den eigenen Erdgasverbrauch um durchschnittlich 40 Prozent mindern, erhöhen sich der jährliche Stromverzicht auf 37,8 TWh (ca. 1,4 Prozent des EU-Stromverbrauchs) und die volkswirtschaftlichen Kosten auf 77,8 Milliarden Euro (ca. 0,5 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts). „Die Ergebnisse zeigen, dass in Knappheitssituationen auf Teile der Erdgasverstromung verzichtet werden kann, um mit dem so eingesparten Erdgas die Versorgung von Haushalten und Industrie zu stützen“, schlussfolgert Professor Albert Moser (JARA-ENERGY) vom Lehrstuhl für Übertragungsnetze und Energiewirtschaft.
Im Kontext der öffentlichen Diskussion um eine Verringerung der Abhängigkeit von Erdgasimporten wird auch eine mögliche Verzögerung von eigentlich geplanten Abschaltungen von Kohlekraftwerken angeführt. In ihrer Kurzstudie kommt das RWTH-Team zu dem Ergebnis, dass eine solche Verzögerung die volkswirtschaftlichen Kosten durch eine Reduktion des Erdgasverbrauchs im Stromsektor tatsächlich zumindest teilweise kompensieren würde. So ließen sich die jährlichen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft bei einer Verzögerung der Abschaltung von Kohlekraftwerken im 40-Prozent-Reduktionsszenario um rund zwei Drittel auf 26,4 Milliarden Euro senken, im 30-Prozent-Reduktionsszenario würde eine solche Verzögerung sogar sämtliche volkswirtschaftliche Effekte vollständig auffangen. Allerdings merken die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, dass dabei entstehende negative Effekte auf die Umwelt in den modellierten volkswirtschaftlichen Kosten noch nicht mitberücksichtigt wurden.
Weitere Informationen auf der Website der RWTH Aachen: https://www.rwth-aachen.de/go/id/vtccw?#aaaaaaaaaavtcgf