Warum Autisten Gesichter schlechter erkennen und interpretieren können

Autismus zählt zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Die unheilbare, genetisch bedingte Erkrankung macht sich bereits im frühen Kindesalter bemerkbar. Sie kommt vier Mal so häufig bei Jungen als bei Mädchen vor (Foto: shutterstock).
Autisten können Fahrpläne und Kinoprogramme auswendig aufsagen. Sie haben aber Probleme, Gefühle wie Freude oder Trauer bei anderen Menschen zu erkennen. Wie JARA-BRAIN Juniorprofessor Dr. Thomas Nickl-Jockschat und ein Forscherteam unlängst herausfanden, ist für dieses Defizit eine Störung im Sehzentrum mitverantwortlich.
Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung können unter anderem soziale und emotionale Signale schwer einschätzen. Daher wirken ihre Reaktionen oft nicht angemessen: Die Tonlage ist monoton, Gestik und Mimik verhalten. Die dafür verantwortlichen Ursachen sind bisher nur ansatzweise erforscht. JARA-BRAIN Wissenschaftler konnten nun zeigen, dass die physiologisch beeinträchtigte Verarbeitung von Seheindrücken sich bei Autisten ursächlich auf Netzwerke im Gehirn auswirkt, die am Erkennen und Interpretieren von Gesichtern beteiligt sind.
Bei Autisten verminderte Aktivität im linken Gyrus fusiformis
Prof. Thomas Nickl-Jockschat und seine Kolleginnen und Kollegen werteten in ihrer Metaanalyse die Ergebnisse von 14 funktionalen Bildgebungsstudien aus.
In den Einzelstudien mussten Autisten unterschiedliche Aufgaben durchführen, die alle die Verarbeitung von Gesichtern untersuchten, so etwa Gesichter wiedererkennen und beschreiben, sowie deren emotionalen Ausdruck interpretieren. „Die Frage, die uns interessierte, war, ob es studienübergreifend ein bestimmtes Muster gab, bei dem sich die Hirnaktivität der Autisten von gesunden Vergleichsgruppen unterschied“, berichtet der JARA-BRAIN Wissenschaftler. Das Resultat: „Wir stellten studienübergreifend eine verminderte Aktivität im linken Gyrus fusiformis während der Gesichterverarbeitung bei Autisten fest.“
Weitere Untersuchungen, bei denen die Forscher auf Datensätze aus dem Rockland Sample im National Institute of Health (NIH) und auf die Datenbank Brain Map in San Antonia zurückgriffen, zeigten, dass diese vermindert aktive Region im Gyrus fusiformis Teil eines Netzwerks ist, das für das Erkennen und Interpretieren von Gesichtern zuständig ist. Diese Erkenntnis stellten die JARA-BRAIN Wissenschaftler in einen Zusammenhang mit ihren früheren Forschungsergebnissen zu Wachstumsstörungen in Hirnarealen bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Thomas Nickl-Jockschat: „Wir überprüften, ob eine der fünf bekannten von Wachstumsstörungen betroffenen Hirnregionen in diesem Netzwerk liegt. Dies traf interessanterweise nur auf die Hirnregion V5 im Hinterhauptlappen zu, die nahe am primären Sehzentrum liegt.“
Weiterhin zeigte sich: Auch bei funktionalen Bildgebungsstudien, die sich mit Netzwerken beschäftigen, welche dem menschlichen Pendant der Spiegelneuronen entsprechen, spielte die Hirnregion V 5 eine große Rolle. Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster aufweisen, als würde die Handlung selbst praktizieren werden. Somit ergibt sich ein Zusammenhang zwischen diesem Netzwerk und Empathie-assoziierten Prozessen. „Die Analyse zeigte, dass die strukturelle Läsion in V 5 bei Autisten ganz entscheidende Konsequenzen für das fusiforme Netzwerk und das Spiegelneuronen-Netzwerk - und damit auf die Gesichterverarbeitung hat“, resümiert Thomas Nickl-Jockschat. Die Ergebnisse wurden unlängst in der Fachzeitschrift „Brain Structure & Function“ veröffentlicht.